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INTERVIEW

Psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen steigt in der Krise deutlich - auch in der Region

Wangen - Bereits vor der Pandemie zeigte etwa jedes fünfte Kind beziehungsweise jeder fünfte Jugendliche laut verschiedenen Studien soziale, psychische oder körperliche Auffälligkeiten. 
Wie sich diese Entwicklung durch die Pandemie verändert und welche Folgen die Corona-Krise für Kinder und Jugendliche hat, darüber hat die „Schwäbische Zeitung“ mit der Chefärztin der Rehabilitationsklinik für Kinder und Jugendliche an den Fachkliniken Wangen, Dr. Nora Volmer-Berthele, und dem Leiter der Heinrich-Brügger-Krankenhausschule und Sonderpädagogen, Stephan Prändl, gesprochen.  
  
Laut diversen Studien zeigten bereits vor der Corona-Krise etwa 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen soziale, psychische und körperliche Auffälligkeiten. Wie entwickelt sich diese Tendenz Ihrer Einschätzung nach durch die Pandemie?  
  
Dr. Nora Volmer-Berthele: Die Entwicklung, die wir jetzt aus den Studien sehen, zeigen deutlich eine massive Erhöhung der psychischen Belastung und auch des Behandlungsbedarfs von Kindern und Jugendlichen, insbesondere im Bereich der depressiven Erkrankungen, aber auch der Ängste.  
  
Etwa 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen fühlen sich laut aktueller Studie durch die erste Welle der Pandemie belastet. Ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen, die zu uns zur Rehabilitation kommen, sind auch mit der Diagnose Adipositas bei uns. Gerade im letzten Jahr waren deutliche Gewichtszunahmen zu erkennen. 20 Kilo waren da keine Seltenheit.  
  
Die seit einem Jahr andauernden zusätzlichen psychischen Belastungen haben direkte Auswirkungen auch auf den schulischen Kontext. Die Leistungsfähigkeit wird eingeschränkt, die Mitwirkungsfähigkeit kann sich reduzieren.   
  
Was mich hierbei besonders besorgt ist die Tatsache, dass wir bisher die Möglichkeit hatten, beispielsweise über die Schule, noch jemanden dabei zu haben, der die Kinder und Jugendlichen unterstützend zum Elternhaus begleiten kann. Genau diese Hilfsstrukturen sind in der Pandemie deutlich eingeschränkt, sodass wir deutliche Auswirkungen annehmen und befürchten.  
  
Aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht ist das momentan vergleichbar mit der Situation im Auto, wenn die Kinder die Eltern fragen: Wann sind wir da? Die Eltern sagen, wir sind gleich da, aber die Fahrt ist endlos, weil auch die Eltern nicht wissen, wie lange diese neue Situation noch andauert.  
  

Nora Volmer-Berthele ist Chefärztin der Rehabilitationsklinik für Kinder und Jugendliche an den Fachkliniken Wangen.
  
  
Die jetzigen lauten Überlegungen, das Schuljahr zu streichen, sehe ich, bei allem Verständnis für die Sorgen um Stofflücken, als Fehler an. Da fehlt den Kindern der Werkstolz für ihre Leistung, weil sie sich angestrengt haben und keine Wertschätzung erhalten. Viele von ihnen befinden sich seit Monaten im Homeschooling und stellen sich dieser Herausforderung. Selbstverständlich ist das anders. Aber sowohl Lehrende als auch die Schülerinnen und Schüler sind meist sehr engagiert.   
  
Ich erlebe die Kinder als hochverantwortungsvolle Gruppe. Ihnen müsste viel öfter rückgemeldet werden, was sie leisten. Sie dürften in der Öffentlichkeit nicht nur als Bedrohung im Sinne von gefährdendem Element für die Großeltern und als Spreader dargestellt werden.   
  
Neben der Notwendigkeit der Entwicklung neuer Routinen und Sicherheiten ist das meiner Einschätzung nach ein essenzieller Punkt, um die Belastung der Kinder und Jugendlichen zu reduzieren.   
  
Diese sind gerade auch besonders beeinträchtigt, ihnen fehlt die Schule, das Vereinsleben und andere Entwicklungsstellen. Durch die Haushaltsregelung ist der Kontakt zu Gleichaltrigen sehr eingeschränkt. Die Kinder leisten enorm viel!  
  
Stephan Prändl: Aus meiner schulischen Sicht kann ich ergänzen: Die Belastungen für die Gesamtfamilie nehmen zu. Der Lebens- und Erfahrungsraum Schule fällt weg und Eltern und Kinder müssen vieles alleine leisten. In der Schule geht es nicht nur um die Unterrichtsstoffvermittlung, sondern sie ist ein Lebensraum, in dem sich die Kinder auch emotional, psychisch und sozial entwickeln.  
  
Die Familien in unserer Klinikschule sind häufig belastet. Die Kinder, die schon mit psychiatrischen Erkrankungen vorbelastet sind, kommen noch mehr in Not. Der Unterstützungs- und Beratungsbedarf nimmt aus meiner Sicht in unserer Klinik und Schule im Allgäu massiv zu.  
  
 
 
Stephan Prändl ist Leiter des Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrums an der Heinrich-Brügger-Schule, Sonderpädagoge und Autor.
  
  
Wir sind in der kinder- und jugendpsychiatrischen Reha das Übungsfeld, wir haben ein eigenes Schulhaus und die Kinder sind in kleinen Gruppen zusammen. Dort können sie sich dem Lernen wieder gemeinsam annähern und sich auch auf den Fernunterricht vorbereiten.  
  
Wir üben ein wenig neue Normalität in der Pandemie und dadurch bekommen die Kinder Sicherheit und gehen besser, auch im schulischen Kontext, mit ihren Krankheiten um. Sie leiden schulisch außergewöhnlich unter der Situation und deshalb haben wir auch so eine hohe Nachfrage von Familien und Jugendlichen, die zu uns kommen wollen.  
  
Welche sozialen, psychischen und körperlichen Folgen hat die Pandemie kurz- und langfristig für Kinder und Jugendliche? Gibt es auch positive Veränderungen?  
  
Stephan Prändl: In der Schule gibt es die positive Entwicklung, dass die Kinder sehr selbstständig lernen, auch im digitalen Bereich. Sie lernen, sich selbst zu motivieren und Freude am Lernen zu haben – bei uns unter medizinischer, schulischer und therapeutischer Anleitung.  
  
Ich bin hier seit knapp 20 Jahren Schulleiter, letztes Jahr habe ich eine deutliche Verselbstständigung der Lernformen beobachtet. Ich sehe aber auch die große Gefahr, dass der Sozialraum Schule fehlt. Das ist der zentrale Entwicklungsraum neben der Familie.  
  
Dr. Nora Volmer-Berthele: Das sehe ich auch so: Bei der Nutzung von digitalen Medien haben alle, Eltern, Kinder und Schule, viele Fortschritte gemacht. Bei den Bildungsstufen sind Lücken da, meist in Kombination mit der sozialen Schere. Die größten Herausforderungen sind aber meiner Einschätzung nach sozio-emotional. Es gibt gewisse Zeitfenster, in denen auch hier Meilensteine vorgesehen sind.  
  
Wir wissen, dass viele Entwicklungsschritte nachgeholt werden können, es aber manchmal länger dauert. Das kann auch mit Ängsten, depressiven Störungen, aber auch mit Störungen des Sozialverhaltens oder emotionalen Störungen einhergehen.  
  
Die Auswirkungen davon sind noch nicht absehbar, es ist aber davon auszugehen, dass wir mit den Folgen auch nach der Pandemie noch zu tun haben werden. Da wird es um die sozio-emotionale Entwicklung gehen und die Wiederheranführung an den Alltag. Kinder mit psychischen Auffälligkeiten brauchen dann ein Umfeld, das sie umfassend begleitet.  
  
Welche sozialen und psychischen Probleme treten am häufigsten bei Kindern und Jugendlichen seit der Pandemie auf?   
  
Dr. Nora Volmer-Berthele: Depressionen, ganz vorrangig, und Angststörungen nehmen zu, aktuell auch Anpassungsstörungen – als Reaktion auf eine schwere Belastung, hier die Pandemie. Da muss man im Verlauf überprüfen, wie sich die Symptome entwickeln. Im Reha-Setting waren die Jugendlichen ab zwölf Jahren meist etwa zu 60 Prozent männlich. Jetzt ändert sich das: Wir haben deutlich mehr Mädchen, die Unterstützung einfordern und benötigen.  
  
Stephan Prändl: Meine Kolleginnen und Kollegen sind jetzt oft nicht mehr mit den expansiven Störungen (sichtbarere, nach außen gehende Erkrankungen, beispielsweise ADHS, Anmerkung der Redaktion) beschäftigt, die früher viel häufiger da waren, sondern sie haben sich weitergebildet hin zu den nach innen gehenden Erkrankungen wie Angst und Depression.  
  
Betroffen sind auch viele Mädchen, die im Unterricht wenig auffallen. Das ist schwierig zu erkennen, denn die Schüler, die zum Beispiel durch den Klassenraum rennen und schreien, fallen mehr auf. Das ist die große Herausforderung für uns.  
  
Woran können Eltern und Lehrerinnen und Lehrer psychische und soziale Probleme der Schüler erkennen? Was sind die Alarmzeichen?  
  
Stephan Prändl: Das ist in den Schulen jetzt schwierig zu erkennen, da die Lehrkräfte ihre Schülerinnen und Schüler viel seltener sehen. Es gibt jedoch Alarm- und Warnzeichen. Die Kolleginnen und Kollegen in den Heimatschulen kennen ihre Klasse, genau das ist in der Pandemie weggefallen.  
  
Kinder mit Ängsten und Depressionen zeigen sich nicht so stark nach außen. Die Lehrerinnen und Lehrer erkennen in der Regel, wenn etwas mit den Schülerinnen und Schülern nicht stimmt.  
  
Vor der Pandemie wurde Kontakt zu den Eltern aufgenommen, damit man nachschaut, wenn besondere Aufmerksamkeit gefordert ist. Wir haben zu wenig Präsenzunterricht für die Kinder, wir müssen wieder zu einem Alltag, in dem die Gruppen zusammenkommen. In der engen Zusammenarbeit zwischen Schule, Kind und Eltern entstehen Hinweise auf Erkrankungen und führen zu Experten.  
  
Dr. Nora Volmer-Berthele: Für die Eltern ist es ebenfalls schwierig herauszufinden, was ist die neue Normalität und wann ist es bei den Kindern ein Rückzug, ein Stimmungseinbruch, bei dem man handeln muss. Es ist vollkommen in Ordnung, wenn man sich jetzt auch früher meldet. Schlaf ist ein wichtiger Hinweis: Gibt es noch einen regulären Tag-Nacht-Rhythmus? Gehen die Kinder noch in den Austausch? Gibt es plötzliche Stimmungsschwankungen? Vermitteln die Kinder Perspektivlosigkeit?  
  
Es ist wichtig, da in den Austausch mit den Lehrenden zu gehen: Wie erleben sie die Kinder im Homeschooling? Wenn die Lehrerin oder der Lehrer auch eine Veränderung merkt oder die Eltern unsicher sind, können sie sich an die Profis wenden: die Kinderärztinnen und -ärzte und Kinder- und Jugendpsychiaterinnen und -psychiater.  
  
Welche Möglichkeiten sehen Sie für Eltern und Lehrkräfte, Kinder und Jugendliche während der Pandemie zu unterstützen?  
  
Stephan Prändl: Es braucht einen ritualisierten Schulalltag, der Tag muss strukturiert sein. Der Tagesablauf ist mit den Schulen auch weggefallen: aufstehen, Schulweg, Unterricht, wieder nach Hause kommen. Die Ritualisierung des Tages ist für die schulische Entwicklung ganz bedeutsam. Da können Eltern und Lehrende viel dazu beitragen.  
  
Dr. Nora Volmer-Berthele: Ja, es ist wichtig, ganz normale Routinen zu schaffen. Die Kinder sollten rechtzeitig aufstehen und sich für den Schulunterricht auch zu Hause umziehen für die klare Abgrenzung. Außerdem sollten Bewegungseinheiten eingebaut werden, selbst wenn die Kinder nur ein paarmal um das Haus laufen.  
  
Symbolisch sollten Situationen geschaffen werden, wenn der Unterricht anfängt und aufhört, damit sichtbare Grenzen gesetzt werden. Die Kinder sollten etwas Gutes für sich tun: ein Buch lesen, baden, eine Gesichtsmaske machen. Neue Dinge auszuprobieren ist wichtig.  
  
Eltern sollten auch schauen, wo Kinder dennoch soziale Interaktionen finden. Die finden gerade anders statt. Beispielsweise digital. Da sollte sichergestellt werden, dass die Kinder dennoch nicht zu lange vor dem Computer sitzen. Aber wenn sie zusammen online spielen und quatschen für eine gewisse Zeit, ist das vollkommen in Ordnung.  
  
Kinder sollten sich aber nicht über einen langen Zeitraum in Fantasiespielen verlieren, das kann problematisch werden. Routinen wie gemeinsames Essen, Zeit draußen zu verbringen und Spieleabende können hilfreich sein. In die Alltagsstrukturen sollten positive Akzente eingebaut werden.  
  
 
Artikel aus: Schwäbische Zeitung, vom 13.04.2021, ein Bericht von Selina Beck  
  
 
Etwa 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen zeigen laut verschiedenen Studien soziale, psychische oder körperliche Auffälligkeiten seit der Corona-Pandemie. (Foto: Waldburg-Zeil Kliniken) 
Veröffentlicht am: 20.04.2021  /  News-Bereich: News aus den Fachkliniken
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